Barbara Sandner (geb. Meinke, *1937) stammt aus Stralsund. Dort besuchte sie bis zur 8. Klasse im Jahr 1952 die Grundschule und bis zum Abitur 1956 die Oberschule. Ab der 7. Klasse weckte die Chemielehrerin Barbaras Interesse an diesem Fach. Die Eltern mit kaufmännischen Berufen unterstützten das und kauften ihr ein Chemielehrbuch, das zur Ausbildung von Laboranten und Chemiefacharbeitern in Berufsschulen diente – Lehrbücher für Grund- und Oberschulen gab es in der Nachkriegszeit nicht.
Auf der Oberschule bot der Chemielehrer nachmittags eine Arbeitsgemeinschaft mit Versuchsmöglichkeiten an, an der sich Barbara beteiligte. Es verwundert daher nicht, dass sie sich – als einzige ihres Jahrgangs – für ein Chemiestudium bewarb, und zwar an der Humboldt-Universität Berlin. Sie wurde abgelehnt, weil ihre politische Einstellung mit 3er-Noten in Geschichte und Gegenwartskunde im Gegensatz zu den Einsen und Zweien in allen anderen Fächern Zweifel hervorrief.
Die zweite Bewerbung richtete sie an die am 1. September 1954 gegründete Technische Hochschule für Chemie Leuna-Merseburg. Zum Aufnahmegespräch kamen Vertreter der Hochschule nach Rostock, es verlief erfolgreich. Barbara begann ihr Studium in Merseburg im Oktober 1956.
Nach bestandenem Vordiplom und Abschluss des Grundstudiums richtete sich ihr Hauptinteresse auf die Polymerchemie. Dazu hörte sie eine Grundvorlesung und die Vorlesung „Chemiefaserstoffe“, letztgenannte gehalten von Hermann Klare (1909 – 2003). Er war stellvertretender Direktor des Instituts für Faserstoff-Forschung der Akademie der Wissenschaften in Teltow-Seehof. Betreut von Joachim Ulbricht (1924 – 2017) fertigte Barbara dort 1960/61 ihre Diplomarbeit an, nachdem sie nur Positives von anderen Studierenden gehört hatte.
Nach Annahme der Arbeit und bestandener Diplomprüfung erhielt sie im Institut in Teltow-Seehof eine Doktorandenstelle als wissenschaftliche Assistentin. In Ulbrichts Arbeitsgruppe fertigte sie ihre Dissertation „Der Einfluss von Verunreinigungen auf die Lösungspolymerisation des Acrylnitrils unter besonderer Berücksichtigung ungesättigter Verbindungen“ an. Diese reichte sie 1965 an der TH Merseburg ein und verteidigte sie dort Ende 1965.
Während der Promotionsphase hatte sie ihren Mann, auch Chemiker, kennengelernt und geheiratet. Ihre Tochter kam 1964 zur Welt. Weil es in den 1960er-Jahren nicht genug Krippen- und Kindergartenplätze gab, kam die Großmutter nach Teltow, um das Baby zu betreuen. Eine dafür benötigte größere Wohnung erhielten Sandners nicht, die Großmutter bekam keine Aufenthaltsgenehmigung in Teltow.
Das Wohnungsproblem löste im Jahr 1965 ein Angebot des Chemiefaserwerks (CFW) Premnitz. Barbara Sandners Ehemann hatte bereits im August 1965 eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter im CFW angenommen. Im Dezember 1965 konnte die Familie einschließlich Großmutter eine Wohnung in Premnitz beziehen.
Barbara Sandner wirkte ab 1966 erst als wissenschaftliche Mitarbeiterin, dann als Abschnittsleiterin der wissenschaftlich-technischen Information (WTI) im Bereich Forschung und Entwicklung (F+E). Ende 1967 übernahm sie die Leitung der Hauptabteilung Zentrallabor und WTI und war ab Mai 1970 Stellvertreterin der Direktors F+E. 1969 erhielt sie einen Kindergartenplatz für die Tochter.
Es folgten Schicksalsschläge: Ihr Mann starb 1970 bei einem Autounfall, Großmutter und Schwiegermutter verstarben 1971. Im Jahr darauf kehrte Barbara Sandner als wissenschaftliche Mitarbeiterin in das nunmehr Institut für Polymerenchemie der Akademie der Wissenschaften Teltow-Seehof zurück. Sie untersuchte Komplexbildungs- und Medieneinflüsse auf die Copolymerisation von Acrylnitril und Styrol. Ihre Ergebnisse waren so außergewöhnlich, dass sie den Friedrich-Wöhler-Preis erhielt. Das war ein Wissenschaftspreis für herausragende Leistungen junger Nachwuchswissenschaftler. Nur zwei Frauen wurden von 1960 bis 1991 damit ausgezeichnet. Die Forschungsergebnisse wurden 1979 für die Promotion B zum Dr. sc. nat. vorgelegt und verteidigt. Die Facultas docendi erhielt Barbara Sandner 1980 von der TU Dresden.
1983 wurde sie als Hochschuldozentin an die TH Merseburg berufen. Ihre Arbeitsgebiete erweiterte sie um medizinische Kompositmaterialien und Polymerfestelektrolyte. 1988 erhielt sie zusammen mit Zahnmedizinern der Medizinischen Akademie Erfurt den Rudolph-Virchow-Preis für ein Dentalkomposit, das sie zusammen entwickelt und erprobt hatten.
Im September 1989 wurde sie in Merseburg zur außerordentlichen Professorin berufen. Doch das erste Hochschulstrukturgesetz des Landes Sachsen-Anhalt vom 28. Februar 1992 legte fest, die TH müsse zum 31. März 1993 juristisch aufgehoben werden. Die drei leistungsstärksten Bereiche, darunter die Chemie, waren bereits mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vereinigt worden. Die wissenschaftlichen Leistungen der parteilosen Barbara Sandner wurden in vollem Umfang anerkannt, die Promotion B in die Habilitation umgewandelt, und Sandner wurde als Professorin für Makromolekulare Chemie an die Universität Halle-Wittenberg übernommen.
Nach ihrer Pensionierung im Jahr 2002 betreute Barbara Sandner noch freischaffend bei einem Forschungsprojekt einen Doktoranden und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin bis 2004.
Dieser Beitrag ist erschienen in den "Nachrichten aus der Chemie", Mai 2025
Autorin: Dr. Gisela Boeck, Vorsitzende der Fachgruppe Geschichte der Chemie
Foto: Nachrichten aus der Chemie
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zuletzt geändert am: 28.08.2025 10:59 Uhr von S.Fischer